Kapitel ICantha, Kloster von Shing JeaDeri wischte sich den Schweiß von der Stirn. Schon wieder waren Botengänge zu erledigen und sie kam nicht dazu, sich mit den Studien der heiligen Bücher der Muttergöttin Dwayna zu beschäftigen. Dabei begann sie gerade, erste Fortschritte zu machen, was das Beschützen und das Versorgen der Wunden der anderen Novizen mithilfe von Gebeten anging. Doch wenn sie nie dazu kam, ihr Wissen anwenden zu können, würde es noch lange dauern, bis sie mit den großen Heilkundigen mithalten konnte, sollte es denn überhaupt einmal soweit kommen.
Aber die Schriftstücke und Artefakte mussten nun einmal überbracht werden und die Novizen waren die günstigste Möglichkeit, dies zu erledigen. Außerdem sollte es ihnen eine gewisse Demut beibringen, wie die Großmeister sich gern ausdrückten, auch wenn Deri das nicht wirklich wahr haben wollte.
Gerade nahm sie die Holzkiste mit den Artefakten wieder auf, als sie eine schmale Gestalt wahrnahm, die im Schatten an einer Säule lehnte und sie höhnisch musterte.
„Habt Ihr nichts anderes zu tun, als anderen Novizen bei der Arbeit zuzusehen? Sicher habt Ihr selbst noch genug Studien zu absolvieren.“, wollte die angehende Mönchin wissen.
Die Gestalt ließ einen dünnen Gegenstand lässig von einer Hand in die andere wandern, wobei es metallisch glänzte und antwortete: „Ich bin kein Sklave eines Großmeisters, verzeih, eine Novizin, wie sich das wohl nennt. Ich kam mit dem Schiff, das unten am Pier liegt. Aber du bist nicht die erste, die diesen Fehler macht. Ein Kerl am Hafen gab mir diesen Brief, der wohl ebenfalls mit dem Schiff kam und sagte mir, ich sollte ihn überbringen. Weil ich das Kloster sowieso gern einmal von innen sehen wollte, habe ich mich einverstanden erklärt. Man hat mir gesagt, dass ich dich vermutlich hier am Säulengang finden würde. Jedenfalls wenn dein Name Narogmo lautet.“
Mit diesen Worten nahm sie eine Schriftrolle hervor und hielt sie Deri hin.
Die nahm ihn entgegen, während sie sagte: „Ja, Narogmo heiße ich, Deri Narogmo, und dieser Brief gehört daher mir. Nun sagt mir noch, wie ich Euch zu nennen habe.“ - „Nuina. Nenn mich Nuina, alle tun das. Außerdem wäre mein ganzer Name wohl zu kompliziert für dein zerbrechliches Köpchen.“ Nuina lachte und ließ weiter das metallische Ding in der Hand kreisen, von dem Deri nun erkannte, dass es sich um einen Dolch, ein Messer oder etwas derartiges handeln musste.
Ohne weiter auf die Sticheleien ihres Gegenübers zu achten, öffnete Deri den Brief und begann zu lesen. Tränen traten ihr in die Augen, was Nuina zu einem weiteren Lachen veranlasste, doch es waren Freudentränen, denn der Brief stammte aus Ascalon und war von ihrer Mutter, die mit ihren Geschwistern, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte, dort lebte.
Doch auch böse Nachrichten brachte die Depesche. Charr, große katzenartige Wesen, von denen Deri nur sehr wenig wusste, waren in die Randbezirke von Ascalon eingedrungen und belagerten den Nordwall.
Wieder einmal schwor sie sich, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hätte, würde sie die große Reise antreten, um ihren Geschwistern mit ihren dann vorhandenen Kräften zu unterstützen.
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Tyria, RegententalSchon wieder war die Wildkatze ihm entwischt. Sindar, kaum mehr als ein Knabe vom Alter und doch mit einer leichten Handaxt, die andere eher als Beil bezeichnen würden, und einem Kurzbogen bewaffnet, ärgerte sich über sich selbst. Wenn die großen Waldläufer ein Tier zähmten, ohne es auch nur vorher einzufangen, sah das alles so viel einfacher aus. Gerade wollte er der Katze nach, als ein eindringlicher Ruf hinter ihm erschallte. Es war Valkyria, seine Schwester, die zwei Sommer mehr gesehen hatte als er und die gerannt zu sein schien. Jetzt stand sie, obwohl sehr gut gebaut und von athletischem Wuchs, nach Luft schnappend einige Meter entfernt und winkte ihm, zu ihr zu kommen. „Was gibt es, beste Schwester, dass du so in Eile bist. Du hast meine Katze verjagt.“ Er war immer noch etwas wütend und seine Schwester bot ein gutes Ventil für seinen Ärger.
„Lass die närrischen Tierversuche sein. Da sind Grawle, vielleicht auch ein Charr. Vater...“ - mehr brauchte Sindar nicht zu hören, er lief los, dicht gefolgt von seiner Schwester, die das Kurzschwert, welches sie am Gürtel trug, lockerte.
Er hörte, dass sie nur schwer Luft bekam und doch überholte sie ihn und gab die Richtung vor, die sie zu nehmen hätten. Immer weiter Richtung Norden, in Richtung der Stadt Ascalon, ging es, wo ihr Vater der Wache am Wall angehörte, seit er hierhergezogen war, auch wenn die Ascalonier in ihm, dem gebürtigen Canthaner, immer noch einen Sonderling sahen.
Wenn Valkyria sich so beeilt hatte, um ihren jüngeren Bruder zu holen, musste es sich um etwas wirklich wichtiges handeln, daher verlor keiner der beiden auch nur einen Augfenblick mehr Zeit als nötig.
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Elona, Chahbek„Korsaren!“ Arahael schreckte aus seiner Mittagsruhe hoch und griff wie automatisch zur Sense, die neben ihm an der Schilfwand der Hütte lehnte. „Bei den fünf Göttern!“, dachte er noch, während er aus seiner Hütte stürmte und dabei fast den Rufenden über den Haufen rannte, einen speertragenden Blondling in weißer Rüstung, wohl einen Sonnenspeer. Doch schon lief dieser Weiter in Richtung des Hauptdorfes und der Churrhir-Felder, Arahael hinterdrein. Schon einige andere Dorfbewohner jeden Alters hatten sich dort versammelt und sahen mit Entsetzen zu den Schiffen hinüber, von denen aus gerade erste Brandpfeile auf die Strohhütten geschossen wurden.
Arahael schaute genauer hin. Die Korsaren waren meist allein oder zu zweit unterwegs, sie bauten wohl auf die Furcht der Dorfbewohner und darauf, dass die Soldaten aus Kamadan nicht schnell genug zur Stelle sein konnten.
„Den Anführer. Dorthinten.“
Arahael wies nach Westen, seitlich an einem kleinen Hügel vorbei und über ein kleines Rinnsal, einen halbversiegten Arm des Flussdeltas. Jetzt sah auch der junge Sonnenspeer hin und setzte sich sogleich in Bewegung, ohne groß über die Folgen nachzudenken. Arahael folgte ihm, gewillt, das Schlimmste zu verhindern. Beiden auf den Fersen war ein Mann mit Kinnbärtchen und in edler Kleidung, der eher wie ein Adliger denn wie ein Krieger wirkte.
Rolaan, der Mann in den auffälligen Kleidern, dachte nur kurz nach. Diese beiden würden sicher mit einem einzelnen Korsaren fertig werden, und wenn er sie begleitete, würde ein Teil des Ruhmes wohl auch ihm zufallen und vielleicht gab es dann auch ein Bankett oder sonst irgendwelche Vergünstigungen. Und gegen solche hatte er nie etwas einzuwenden, so wahr er ein de Sion war.
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